Wiederaufbau Ahrtal: Unglaubliches Engagement, unglaublich viel zu tun

Gut ein Jahr nach der Jahrhundertflut im Ahrtal hat sich PROJEKT PRO mit dem Architekten Fritz Vennemann aus Bad Neuenahr-Ahrweiler über den Stand der Dinge unterhalten und dabei sowohl erschreckende als auch höchst beeindruckende Antworten erhalten.

24. August 2022
Arbeitsteam im Fachwerkhaus im Ahrtal.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 fielen innerhalb von 24 Stunden mehr als 115 Liter Regen pro Quadratmeter in Teilen der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Mindestens 17.000 Menschen verloren ihr Hab und Gut oder stehen vor erheblichen Schäden und 134 Personen bezahlten mit dem eigenen Leben. Über 3.000 Gebäude entlang der Ahr wurden beschädigt, knapp 500 ganz zerstört.

Rettung der Baukultur

Fritz Vennemann hat die Katastrophe aus nächster Nähe miterlebt und als Architekt natürlich auch eine sehr fachliche Sicht auf die Bauschäden. Als er sah, dass kurz nach der Flut an vielen Fachwerkgebäuden ein gesprühtes Abrisszeichen vom THW klebte, war für ihn klar, dass man sich hier engagieren musste. „Fachwerk ist ein perfekter Ausdruck deutscher Baukultur. Hier ist Ästhetik mit baulicher Expertise und Nachhaltigkeit vereint. Das muss bewahrt werden!“ Zusammen mit gleichgesinnten Spezialisten gründete er den Verein „Historisches Ahrtal“, der sich den Wiederaufbau, Schutz und Erhalt von historischen Bauwerken im Ahrtal und der Umgebung zum Ziel gesetzt hat. Das Fachwerk ist das baukulturelle Gesicht der Weinorte an der Ahr.

Logo Historisches Ahrtal e.v.
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Fritz Vennemann
Fritz Vennemann

Improvisieren steht im Vordergrund

„Es ist alles andere als normales Arbeiten. Die Arbeitsmengen sind einfach unglaublich, der Bedarf hat sich verhundertfacht. Ich bin 80 Stunden pro Woche unterwegs, und ein Ende ist überhaupt noch nicht abzusehen. Planung ist kaum möglich, es geht mehr um die Bewältigung akuter Probleme und ein permanentes Improvisieren. Der Engpass dabei sind Mitarbeiter und Material. Ganz langsam erst kommen wir zu normalem Arbeiten zurück und haben Zeit, auszuschreiben und 2-3 Angebote zu vergleichen“, so beschreibt Fritz Vennemann die Situation.

„Einige meinen, man hätte als Architekt einen Zauberstab in der Hand. Aber mit dem Wohnungsbau werden wir noch bestimmt fünf Jahre brauchen, und strukturelle Schäden z.B. an 62 zerstörten Brücken, Bahntrassen, Energieversorgung usw. werden uns noch die nächsten 10 Jahre in Beschlag nehmen.“

Spannende fachliche Erkenntnisse

Viele Schäden an den Fachwerkhäusern waren bereits vorhanden und wurden freigespült: fehlender konstruktiven Holzschutz oder Verwendung falscher Materialien bei Wand- oder Deckenaufbauten. Diese Konstruktionsfehler sind oft erst in den letzten 75 Jahren gemacht worden, da das Wissen um den Erhalt und die Pflege von Fachwerkhäusern verloren ging.

Für die Lebensdauer eines Fachwerkhauses ist die Wahl der Baumaterialien entscheidend. Lehm, Holz und Kalk sind die Baumaterialien, die sich seit Jahrhunderten in dieser Kombination bewährt haben. Lehm hat eine sehr geringe Gleichgewichtsfeuchte und entzieht dem Holz dadurch dauerhaft die Feuchtigkeit, hält es trocken und konserviert. Dadurch haben tierische oder auch pflanzliche Schädlinge keine Chance das Holz zu zersetzen. Zement- und Kunststoffhaltige Produkte (Farben, Putze, Mörtel) sperren das Holz ab, da sie zu dicht sind. Bei ständiger Durchfeuchtung nimmt das Holz langfristig Schäden, die man in Form von z.B. torfigen, zersetzten Balken sehen kann. Die Holzkonstruktion der Fachwerkhäuser ist selbsttragend, weswegen die Füllungen aus Lehm und Kalk problemlos ausgetauscht werden können.

Weitere Bausünden, die das Fachwerk schädigen können und vermieden werden sollten, sind hinterlüftete, vorgemauerte Wände/Vorsatzschalen vor Außenwänden im Innenbereich. Hier bildet sich fast immer Kondenswasser im Hohlraum, da sich der Taupunkt in dem Zwischenraum befindet. Eine monolithische Schüttung als Innendämmung kann hier Abhilfe schaffen. Dichtstoffe wie Silikone oder Acrylate zwischen Gefachen und Holz, Außen- und Innendämmung aus Styropor, Hartschaumplattenware oder Mineralfaser und abdichtende, sperrende Farben und Lacke auf den Balken und Gefachen sollten zugunsten ökologischer Baustoffe vermieden werden. Die bessere Wahl sind Feuchte-verträgliche, dampfdiffusionsoffene und kapillaraktive Baustoffe aus Lehm oder Kalk.

© Historisches Ahrtal e.V.

  • Wand im Fachwerkhaus
  • Holzbalken auf Baustelle eines Fachwerkhauses
  • Blick von einer Baustelle eines Fachwerkhauses.
  • Baustelle eines Fachwerkhauses.
  • Zwei Personen arbeiten an der Wand eines Fachwerkhauses.

Das Know-how ist bundesweit gefragt

Die aktuelle Situation muss als große Chance begriffen werden, um die historische Bausubstanz für die folgenden Generationen zu erhalten. „Biologisches und nachhaltiges Bauen ist immer schon existent“, so Fritz Vennemann. „Aber es ist jetzt im Zuge des Klimawandels viel stärker in das Bewusstsein getreten. Mittlerweile ist es so, dass die Ausbildung zur Fachkraft Lehm bei uns am lebenden Objekt im Tal geschult wird. Jüngere Kollegen frisch von der Uni haben bei uns schon Lehm Selbstbau-Kurse gemacht, sie haben besonderes Interesse an der Nachhaltigkeit, denn Lehm kann man fast endlos wiederverwenden.“

Es haben sich mehrere Netzwerke von Spezialisten und Unterstützern gebildet. Die Ahrbauhelden aus dem sich der Verein Historisches Ahrtal gebildet hat, waren ein Zusammenschluss von Zimmerern, Lehmbauern und Architekten, die sich den Erhalt historischer Bausubstanz nach der Flut zur Aufgabe gemacht haben und bei denen Eigentümer und Fachkräfte Unterstützung erfahren. Neben Beratung geschädigter Eigentümer direkt am Objekt finden auch Vorträge wie “Fachwerk nach der Flut” oder eine online Fachwerk-Sprechstunde alle 2 Wochen statt.

„Im Laufe der Wiederaufbauarbeiten hat sich im Ahrtal ein hoch qualifiziertes Spezialistentum für Fachwerkgebäude entwickelt und erhält Anfragen und Unterstützung aus ganz Deutschland“, so Fritz Vennemann. Aber auch Laien können mit einer guten Schulung viel bewegen. „Unser Verein bietet deshalb immer wieder verschiedene praktische Seminare und Schulungen zum Mitmachen an, die auf großes Interesse stoßen“.

Schleppende finanzielle Unterstützung und mangelnde Arbeitskräfte

„Ein großes Problem ist nach wie vor die finanzielle Unterstützung: 15 Milliarden Euro wurden für das Ahrtal bewilligt, bislang aber erst 0,5 Milliarden ausgezahlt.“ Viele Menschen haben zudem nicht die Möglichkeit, die 20% Eigenkapital aufzubringen, um an die 80% Förderung der ISB-Bank zu gelangen. Das ist fatal und eine weitere Katastrophe, denn die Leute verlieren nach nun einem Jahr den Mut.

Unglaublich hilfreich ist deshalb die Idee eines Unterstützers: 5eurohaus.de. Mit einer monatlichen Patenschaft ab 5 Euro können einzelne Häuser und Bewohner persönlich gefördert werden. Mittlerweile sind bereits an die 70 Projekte mit der Idee am Start und können im Internet immer noch gefördert werden. Zur Umsetzung des Wiederaufbaus werden in dem Bereich Fachwerk ganz besondere Fachkräfte benötigt: Zimmerer, Restauratoren im Handwerk und Lehmbauer sind besonders gesucht.

„Man muss einfach hierherkommen und sich selbst ein Bild machen, um das Ausmaß der Zerstörung zu begreifen. Es ist immer noch erschreckend und weitere Hilfe ist dringend notwendig!“
Herzlichen Dank für das unglaublich intensive Engagement der bisherigen Unterstützer! In den Links haben wir weitere Informationen zusammengestellt und die Möglichkeiten, mit einer Spende zu helfen.

www.historisches-ahrtal.de
www.5eurohaus.de

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Bauleiter bei der Baustellenbegehung.